Palmarum Fastenpredigtreihe: 1. Sam 16,7

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Palmarum Fastenpredigtreihe: 1. Sam 16,7

# Archiv Predigten 2016

Palmarum Fastenpredigtreihe: 1. Sam 16,7

„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; Gott aber sieht ins Herz“

Helmut Thielicke – prominenter Theologe und unbekannter, stiller Seelsorger

Liebe Gemeinde,

"So siehst Du doch gar nicht aus!" Das waren die Worte meiner Freundinnen, als sie von mir nach dem Abitur erfuhren, dass ich Theologie studieren wollte.

Wie sieht man denn eigentlich aus, wenn man so etwas vor hat – eine innere, sehr verunsichernde Frage kurz vor einem wichtigen neuen Lebensabschnitt!

Im Alten Testament bei Samuel im 16. Kapitel heisst es:

"Aber der Herr sprach zu Samuel: Sieh nicht an sein Aussehen und seinen hohen Wuchs; ich habe ihn verworfen. Denn nicht sieht der Herr auf das, worauf ein Mensch sieht. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an."

Diese Worte verstehen sich wahrscheinlich ganz von selbst, wenn Sie meine Eingangsworte gehört haben und das gilt auch für meine Erfahrungen, von denen ich Ihnen heute berichten möchte!

Ich stamme aus einem relativ säkularisierten Elternhaus hier aus Blankenese. Selbstverständlich war es, der Kirche anzugehören. Das war einfach so: Pastor Halver besuchte unsere betagte Großmutter, die in unserem Hause lebte, zu großen Geburtstagen, wir Kinder waren getauft und gingen zum Konfirmandenunterricht bei Pastor Plate – undenkbar, das zu hinterfragen oder womöglich konsequent abzulehnen. Abends beteten wir mit unserer Mutter am Bett und wenn sie das Zimmer verließ und ich heimlich unter der Decke mit der Taschenlampe weiterlas, obwohl es Zeit zu schlafen war, überlegte ich mir schon, ob das Licht durch die Bettdecke schien, sodass der liebe Gott es sehen konnte! Ein Kinderglaube, von dem wir in den letzten Wochen schon öfter hören konnten.

Manchmal stellte unser Vater uns beim gemeinsamen Sonntagsfrühstück „Wissensfragen“ über Gott und die Welt . Das machte die Mahlzeit ungemütlich. Was bedeutet Ostern, wie war das mit Pfingsten. Auf vieles wussten wir eine Antwort, aber vieles wussten wir auch nicht. Es waren Fragen allgemeiner Art, die den Geist beunruhigten, aber die Inhalte berührten nicht die Seele.

Erst mein gewählter Religionsunterricht in der Oberstufe bei einer sehr geschätzten Lehrerin brachte für mich die Fragen des Lebens mit den Fragen des Himmels in Berührung. Ethische und moralische Anfechtungen bekamen plötzlich andere Antworten und beschäftigten mich über den Tag hinaus.

So entwickelte sich bei mir der Wunsch, tragfähige Gottesspuren zu entdecken und Theologie zu studieren und ich landete schließlich als unerfahrene Studentin an der theologischen Fakultät der Hamburger Universität. Die Diskrepanz zwischen meinen in der Hinsicht auf Gottesfragen eher säkularisierten Kontakten und den neuen Verbindungen in der Uni war riesengroß und ich war beeindruckt von den Kommilitonen, die offenbar festen Glaubens waren, während ich in den Studien auch meine Zweifel verscheuchen wollte.

Im dritten Semester belegte ich ein Seminar bei Professor Thielicke. Vieles hatte ich schon von ihm gehört. Er war damals weltweit bekannt und prominent  und von unbeschreiblichem Charisma. Überall, wo er erschien, füllten sich die Hörsäle und Kirchen. In seiner Hamburger Predigtstätte, dem Michel, versammelten sich über 2000 Menschen, um seine Predigten zu hören, er schrieb wichtige theologische Bücher und war überall zu Vorträgen eingeladen. Er wirke dabei aber auch eitel – so hieß es - und – bei einer blühenden Agenda - er besäße sogar einen weißen Jaguar, was natürlich gar nicht stimmte! Auf mich wirkte der Professor tatsächlich beeindruckend: ein großer, stattlicher Mann mit einer tiefen sonoren Stimme und sonnengebräunter Erscheinung, immer korrekt gekleidet. Seine kräftige Statur strahlte die Aura einer gewissen Unantastbarkeit aus. Die Ausdrucksfähigkeit seiner Sprache machte mir Eindruck und so strömte er etwas aus, das bewirkte, dass ich mich zunächst als Studentin irgendwie klein und ziemlich unwissend vorkam. Mit der Zeit bekam ich immer mehr Kontakt zu Studenten, die den Professor umgaben und erlebte bei meinem  wachsenden Interesse für die theologischen Aussagen Thielickes ganz andere Eigenschaften dieses Mannes, die meinen Glaubensweg entscheidend geprägt haben und die schließlich zu den Leitmotiven meines Lebens geworden sind:

Als junger Mann hatte Thielicke sich nach einer mißglückten Schilddrüsenoperation eine Tetanie zugezogen. Erst nach seinen Examina in Theologie und Philosophie, die er deshalb im Rollstuhl absolvieren musste, konnte er mit einem bis dahin unerprobten Heilmittel genesen. Wegen seiner Aktivität in der Bekennenden Kirche als Dozent in Erlangen wurde Thielicke während des Krieges von der Dozentenliste gestrichen und erhielt Redeverbot. Erst nach dem Krieg erwarb er seine erste Professur. Nach bewegten Jahren war er schließlich in den 60er Jahren in Hamburg gelandet und wurde dort schnell zu einem gefeierten Redner auf den Kanzeln der Kirchen, machte Vortragsreisen und bekam mit seiner bekannten Wortgewalt immer größeres Ansehen.

1968 dann stürzte er in eine tiefe Krise. Er feierte  seinen 60. Geburtstag und wurde zu dieser Zeit von dem damaligen SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund, hart angegriffen und als Symbolfigur des Establishments bekämpft. Weil sein Auftreten in den Augen der studentischen Gegner angeblich aus der Zeit des dritten Reiches stamme wie das vieler anderer Professoren auch, wurde er buchstäblich gestürzt. "Leute wie Sie kommen nicht wieder auf die Kanzel!"  war die Parole der gegnerischen Kämpfer und sie stürmten damit die vollbesetzte Michaeliskirche, um den Professor nieder zu zwingen. Der Mann, der bis dahin die Kirche mit seinen Predigten füllte, war erschüttert und nach seinen großen Erfolgen an einem persönlichen Tiefpunkt angelangt. Alles, was ihn zu der prominenten, charismatischen Gestalt gemacht hatte, war ganz unten und forderte  ihn auch theologisch ganz neu heraus.

Aus dieser kritischen Phase holten ihn letztlich seine Studenten, die zu ihm hielten, wieder heraus, richteten ihn in langen Gesprächen wieder auf und erfanden ihn praktisch mit seiner Lehre ganz neu.

Die Würde, die jedem Menschen von Gott verliehen wird, so sagte er später, konnte ihm auch zu diesem Zeitpunkt tiefster Erschütterung nicht genommen werden. Diese fremde Würde ist eben nicht das Geschenk für besondere Leistung, für Herkunft und sozialen Status sondern für jeden Menschen.  Sein "unten-Sein" verstärkte seine Sehnsucht nach Gottes Nähe und Anerkennung so sehr, dass es ihn drängte, die eigenen Erfahrungen in neues, aktives Handeln zu verkehren.

Thielickes Studenten unterstützen und bestärkten ihn, mit den erworbenen Erkenntnissen wieder nach draußen zu gehen und neue Schritte zu wagen. Der große, prominente Thielicke, er genoss die Nähe zu den jungen Menschen, die selbst noch auf der Suche waren, diskutierte mit ihnen über über den Glauben, lud sie zu sich nachhause nach Wellingsbüttel ein und machte den Wandel vom Solisten und Einzelkämpfer zu einem Gruppenmenschen durch, der zunehmend Freude an der Teamarbeit hatte.

In dieser neuen Phase stieß ich als Studentin dazu und durfte erleben, dass mein Professor bei wachsender Nähe zu seinen Gefolgsleuten aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft herauskam und zeigte, dass er in dem Glauben, von dem er gesprochen und gelehrt hatte, selber lebte und ihn damit glaubwürdig und nachlebenswert weitergeben konnte.

In unendlichen Gesprächen am Kamin oder in der kleinen Veranda in Wellingsbüttel bei dicker Thielicke-Zigarrenluft, zusammen mit anderen ähnlich gesinnten Pastoren, wurde zunächst ein Predigtkreis gegründet und aus ihm heraus entstand die Projektgruppe Glaubensinformation. Thielicke bezeichnete das Wirken in dieser Zeit gerade mit uns Studenten oft als Reichtum seiner späten Jahre.

Im Laufe der Schaffenszeit verfasste die Projektgruppe Briefserien in allgemeinverständlicher Sprache, die ungeheuer große Auflagen erreichte. Die Gruppe, der auch ich angehöre, ist bis heute aktiv.

Die Devise unserer Treffen und unseres Schaffens stand unter der Überschrift:

Glauben und Handeln gehören zusammen. Wer glaubt, denkt weiter und wer weiter denkt, muss handeln.

Genau diese Worte sind zu meinem eigenen Lebens-Leitsatz geworden. Mein Denken ist im Glauben nicht ausgestellt. Ich mache mich immer wieder auf die Suche nach seinen Inhalten, verharre nicht, sondern werde dabei aktiv, gerade auch in Zeiten der Zweifel. Dabei hilft es mir, mich aufzurichten und mich denen zuzuwenden, die selbst der Hilfe bedürfen. Das gibt meinem Tun einen Sinn und lässt mich mein Handeln mit dem Glauben verknüpfen.

In der Hauptkirche St. Michaelis wurden neue Wege beschritten. Professor Thielicke hielt  wieder Predigten – aber anders! Eine Predigtreihe für Menschen, die ihren Glauben finden, stärken oder zurückholen wollten, war das Ziel. Nach den Predigten wurde zu Diskussionen in Gruppen eingeladen, die von Theologen und Studenten, dem Thielicke-Team, angeleitet wurden.

Um zu verdeutlichen, dass der christliche Glaube den ganzen Menschen in seinem Denken, Fühlen und Handeln erfassen will, rief die Projektgruppe eine Aktion zur Unterstützung gefährdeter Jugendlicher ins Leben.

Bald kamen deshalb Gruppierungen zu den Gottesdiensten, die sich von der Gesellschaft oftmals an den Rand gedrängt fühlten: Die sogenannten "Rocker" - sie fuhren mit ihren schweren Motorrädern vor, angeführt von dem damaligen Rockerpastor Weißbach und gehörten bald zu der "Fangemeinde" unseres Professors.

In einer anderen Aktion planten wir, Glauben und Handeln modellhaft zu verbinden. Die "Himmelskomiker" kommen – so wurde unsere Aktion in der damaligen Strafanstalt Neuengamme angekündigt. Gefangene in Ghettosituationen wurden zum Gegenstand von Denken, Glauben und Handeln – daraus ergaben sich nach Vorträgen für die Inhaftierten in Neuengamme Einzelgespräche und später daraus resultierende monatelange Betreuungen. Glaube und Handeln gehören zusammen!

Der ehrenamtliche Einsatz von uns Studenten im Gefängnis war ein konsequenter Vollzug unseres theologischen Ansatzes: Christliches Vertrauen bedeutet, den Menschen nicht nur auf biologisches, soziales oder leistungsorientiertes Potential zu reduzieren, sondern Chancen zu vergeben, die allen drei Ebenen gerecht werden!

Denn gerade den Gefangenen, deren Würde in den Augen der Öffentlichkeit nichts mehr wert war, weil sie durch ihr gesetzloses Verhalten an den Rand der Gesellschaft gerutscht waren, gilt die fremde Würde, die Gott jedem Menschen verliehen hat. Unsere Überlegungen waren auch: Wenn Christen den Gefangenen mit Vertrauen begegnen, dann wagen diese auch einen neuen Schritt in Richtung Gott und Menschen, wobei Gesetz und Haft oft die Hindernisse darstellten, die manche nachhaltigen Erfolge blockierten.

Eine wichtige Erfahrung auf meinem Weg war die Gemeinschaft von uns Handelnden, zu denen eben auch Prof. Thielicke gehörte - nicht über oder vor, sondern mitten in der Gruppe, im Team.  Auch er hatte keinerlei Berührungsängste den Inhaftierten gegenüber, schenkte ihnen sein Vertrauen und lud einige von ihnen in ihrem Hafturlaub sogar zu sich zu Weihnachten ein. Er war für viele ein stiller Seelsorger, der dem zur Seite stand, der in Not war, schnell und unkompliziert kam seine Hilfe. Kämpferisch und verzeihend zeigte er sich als Freund und setzte um, worüber er in seinen Predigten sprach.

Die von uns betreuten Gefangenen schöpften oft neue Hoffnung auf ein anderes Leben. Jahrelang haben wir diese Menschen auch außerhalb der Gefängnismauern begleitet. Glauben und Handeln gehören zusammen.

Ein letztes: Professor Thielicke war schon als junger Mensch schwer krank gewesen. Grenzerfahrungen im Krankenbett und im Rollstuhl, später  sein größter Tiefpunkt als Theologe in den 68er Jahren verwandelten den Mann der Öffentlichkeit. Niemals wollte er eines Tages zur Stunde des Todes als der erfolgreiche Mann mit den von ihm verfassten Ethik- und Dogmatikbänden unter dem Arm vor Gott treten. Im Gegenteil: Beladen von eigener Schuld wollte er dann mit leeren Händen um Vergebung bitten.

Das Leid des Menschen, das er selbst in seinem Leben tragen musste, galt Thielickes Augenmerk und zeigte nicht mehr den Mann, der in der Öffentlichkeit glänzte, sondern den, der am Sterbebett eines schwer erkrankten Studenten ausharrte bis zuletzt und schließlich auf dem eigenen Sterbebett um Vergebung bat.

Auch mein Augenmerk hat sich auf die gelenkt, deren Leben sich dem Ende zuneigt. Kein Leben verläuft ohne Leid und jedes Leid verdient Aufmerksamkeit und Zuwendung. Oft denke ich an den Lebensweg meines Professors. Sein schweres Lungenleiden, an dem er letztlich gestorben ist, hat ihn an seine körperliche und theologische Grenze und gerade in dieser Not ohne Gepäck vor seinen Gott gebracht. Seine Familie und seine treuen Gefährten haben ihn begleitet. Sein Weg, seine Haltung und sein Handeln haben sich mir tief eingeprägt. Auch als Suchende hilft mir nun immer wieder mein eigenes Handeln und ich versuche, an deren Seite zu bleiben, die an der Grenze stehen und den Übergang in ein neues Leben schaffen wollen.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

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