Laetare Fastenpredigtreihe: Mt 25,40

Laetare Fastenpredigtreihe: Mt 25,40

Laetare Fastenpredigtreihe: Mt 25,40

# Archiv Predigten 2016

Laetare Fastenpredigtreihe: Mt 25,40

Das Thema der Predigtreihe „Lebenswege- Glaubenswege“ bringt mich dazu, von mir selber auszugehen. Indem ich mein Leben durchgegangen bin, habe ich ein Muster erkannt. Ich habe nämlich immer wieder ausgerechnet durch Menschen, die aus ihrer Gebrochenheit heraus „ganz“ agierten, selber Heilung meiner Gebrochenheit erlebt. Dieses Geheiltwerden durch das Hinzutreten solcher Menschen ist für mich erlebte frohe Botschaft.

Wenn mir Menschen in ihrem - im übertragenen Sinne - sauber geputzten Haus makellos gegenüber treten, dann beginnen sie immer erst in dem Moment wirklich zu mir zu sprechen, in dem ich verstehe, wo ihre Schwäche liegt.

Natürlich hat das mit dem Zustand zu tun, in dem ich mich selber befinde.

Ich stelle es mir so vor, dass jedem genau an der Stelle das Evangelium im Nächsten aufgeht, an der er selber vor einer Tür steht, die er nicht öffnen kann, der andere aber schon.

Manche werden erst durch die Großzügigkeit anderer großzügig, der Großmut anderer wird ihr Evangelium. Andere erleben durch die Tatkraft eines Menschen, wie ihnen selber diese Dynamik plötzlich durch die Adern fließt, obwohl sie sonst im Zustand des Phlegmas leben mussten.  

Ich konnte mir beim Nachdenken, wen ich als leuchtendes Beispiel unter den meinen Lebensweg zeichnenden Personen auswählen sollte, keine Entscheidung für eine einzelne abringen. Mir war schnell klar, dass eine große Menge Menschen aus meiner Vergangenheit gemeinsam gewirkt hat: mein persönlicher Geschichts-Zug, mein persönliches Menschen-Mosaik. Doch egal, welchen ich beschrieben hätte: Sie wären alle nichts für die Predigt gewesen, weil ich bei allen auch über ihre Lebens-Brüche hätte berichten müssen, was sich aber wegen der Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte nicht anbietet.

Stattdessen lese ich Ihnen eine Geschichte vor, die ich zum Predigttext geschrieben habe.

Dazu muss ich sagen, dass erst die Geschichte da war. Ihr Titel

„Ich war nackt, und Ihr habt mich bekleidet“

(Vers 36) hat sich der Geschichte natürlich zugesellt. Der Evangelientext ist ja ein Gerichtstext. Wer Jesus nicht erkennt, indem er Bedürftigen, Gefangenen, Fremden, Kranken zu essen oder zu trinken oder Beistand in Krankheit oder Gefängnis zu geben unterlassen hat, der wird zur Strafe selber nicht erkannt und „rausgeworfen“.

Gleichzeitig: Was für ein seltsam einfaches Gericht. Wer die Notwendigkeit erkennt, dem Bedürftigen ein Glas Wasser zu geben oder ihn einmal in Bedrängnis oder Bedürftigkeit zu besuchen, der hat das große Los gezogen: Paradies, endgültige Rettung, immerwährende Liebesbeziehung.

Ich denke an die Rezeption dieser menschenübersetzten Gottes- oder Liebeslogik durch die Gebrüder Grimm oder die Geschichten von Perrault. Regelmäßig steht und fällt da alles mit einem Glas Wasser, das einer durstigen alten Frau angeboten oder vorenthalten wird. Gold oder Pech sind die spontanen Folgen. Gott selber wandert auf der Erde herum und sorgt für Eklats, weil er - als Bettler verkleidet - irgendwas an einer Tür erbettelt und Menschen auf ihn reagieren – und er wieder auf sie. Wir müssen nicht Kinder sein, um in den Bann dieser archaischen, schnell zuschlagenden Logik zu geraten.

Da ich nicht abergläubisch bin und auf die Zuverlässigkeit der Güte Gottes vertraue, interessiert mich das gute Ende dieser Geschichten: Der Fall, der eintritt, wenn Menschen, egal wo ihr Defizit liegt, aus ihrem Nichts heraus doch immerhin ein Glas Wasser anbieten. Nicht, weil sie die Gerichtspistole im Rücken haben, sondern weil sie sich zueinander herablassen und über sich selber hinauswachsen, weil sie die Notwendigkeit erkennen, weil das Herz es so will. Diese Menschen sind mindestens von Gott inspiriert – oder ist es sogar mehr, was mit ihnen geschieht?

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Ich war nackt, und Ihr habt mich bekleidet

Der Nachmittag neigt sich seinem Ende entgegen. Therese, Elisabeth und Fritzchen begeben sich mit dem Vater in die Bahnhofshalle, um mit dem Regionalzug zu ihrer Mutter zurückzufahren. Dies war ein Vater-Wochenende. Und weil die beiden Mädchen und der kleine Junge so einen guten Vater haben, war es ein Wochenende mit höchstem Spiel-, Tobe-, Zoo- und Vorleseeinsatz aller Parteien. Der Vater ist erst seit einem halben Jahr zum Wochenendvater geworden. Den Kindern fehlt er unter der Woche, und am Wochenende stürzen sich alle drei gleichzeitig auf ihn, um ihre Sehnsucht zu stillen, jedes Kind altersgemäß.

Während die beiden Kleinen mit dem Vater noch viel toben und spielen wollen, möchte die Älteste, Therese, auch schon beim Spazierengehen erwachsener reden und fragen. Sie drückt am unmissverständlichsten aus, dass sie zu verstehen sucht, was das ist, dieser veränderte Alltag ohne den Vater und diese Wochenenden ohne die Mutter. Die Wünsche der Kinder, die konträr zueinander und nebeneinander bestehen und von einem, dem einzigen Vater bedient werden müssen, ballen sich auf die Stunden des Wochenendes zusammen. Der Vater vergisst sich selber bei dieser Aufgabe. Er tut alles für alle drei, im schnellen Wechsel, dabei nie nervös oder ungeduldig. Er ist ganz bei den Kindern.

Jetzt sind die Kinder erfüllt, aber auch müde, und sie wissen, dass noch ungefähr eine Dreiviertelstunde zwischen der Vaterzeit und der Mutterzeit liegt. Sie hassen schon jetzt den Übergang, das Unvereinbare. Sie sind traurig und können es nicht sagen, weil sie das Gefühl nicht klar benennen können. Der Vater ist auch traurig, will es aber nicht sagen. Die Kinder sollen durch sein Vorbild lernen, in der Situation stark und froh aufzuwachsen. Daher schweigt er, denn wenn er sich jetzt äußern würde, würden sie seiner Stimme so viel anhören, was sie nicht wissen sollen.

Natürlich spüren sie aber doch alles. Schon bevor sie das Gleis erreicht haben, haben sie sich alle drei als Kompensation so zerstritten, dass die Älteste beleidigt ist und die beiden Kleinen heulen. Der Vater hat Übung darin, die Herde unter solchen erschwerten Bedingungen durch die Öffentlichkeit zu schleusen. Heute ist es aber schlimmer als sonst. Als der Zug einfährt, wollen die beiden Jüngeren nicht freiwillig bei ihm stehen bleiben und springen unartig und gefährlich in der Nähe der Bahnsteigkante herum.

Im Zug schiebt der Vater die Koffer, die Kinder und sich durch die Menge. Zum Glück finden sie Plätze. Elisabeth, die Jüngste, hat sich mittlerweile in einen Wutanfall hineingesteigert. Die Tränen strömen ihr aus den Augen und sie brüllt laut. Fritzchen und Therese kennen den Zustand. Gegen den Wutanfall einer bald Dreijährigen mit diesen Kräften kommt man nicht an. Da kann man nur zurückstecken. Sie tun es. Therese hört auf, beleidigt zu sein, Fritzchen hört auf zu weinen und schaut stumm auf Elisabeth, die mittlerweile strampelnd am Boden liegt.

Der Zug setzt sich in Bewegung und Elisabeth steht auf. Sie will zur Zugtür rennen, denn sie weiß, dass der Vater das nicht zulassen wird. So ist es. Der Vater hat Angst, dass sie hinaus fallen könnte, dass sie sich gegen die Tür werfen und die Tür sich während der Fahrt öffnen könnte. Erwartungsgemäß hält er Elisabeth fest und erklärt ihr, dass sie sich neben Therese setzen muss. Elisabeth schreit noch viel lauter und versucht abwechselnd, dem Griff des Vaters Richtung Tür zu entkommen oder sich auf den Boden fallen zu lassen. Dem Vater bleibt nichts übrig, als sie sehr fest um die Taille zu nehmen und sich auf den Schoß zu ziehen.

Elisabeth vergisst sich völlig. Ihr Geschrei gellt. Aus den Wortfetzen kristallisiert sich ihr Ruf: „Ich will nach Hause! Nach Hause! Nach Hause!“. Die Menschen im Abteil gucken sich alle um. Eine Frau, die ansetzt, ihre pädagogische Weisheit weiterzugeben, wird vom seinerseits geschulten Vater mit den Worten unterbrochen: „Ich kann Ihnen leider nicht helfen. Wenn ich an der Situation im Moment nichts ändern kann, dann können Sie es erst recht nicht!“. Die Frau guckt empört weg. Andere Menschen wenden sich ebenfalls wieder ihren Handys zu, aber nur vordergründig. Es ist einfach zu laut, um nicht involviert zu sein. Der Vater kennt die Öffentlichkeits-Terror-Kinderszenen. Er schaut einfach keinem in die Augen, außer immer abwechselnd seinen Kindern. Er redet ihnen freundlich zu: „Bald sind wir da! Willst Du ein Stück Brötchen, Schätzchen?“. Elisabeth brüllt weiter.

Bis zur nächsten Station wechseln einige den Wagen, in dem das Höllengeschrei unvermindert anhält. Stattdessen steigt ein Obdachloser zu, Reiseziel: Aufwärmung in öffentlichen Verkehrsmitteln – und setzt sich genau gegenüber der Vierergruppe hin. Er schaut unter gesenktem Blick auf die Familie und hört: „Ich will nach Hause! Zu Hause!“. Der Vater schaut dem Obdachlosen nicht in die Augen, er hält sich an sein Rezept.

Dieser Obdachlose sitzt da, mit monatelang getragenen Kleidern und in der Körperhaltung derer, die übersehen werden wollen, weil sie schon zu sehr mit ihrer Heimatlosigkeit ins Gesicht springen. Eine Elendsgestalt auf den ersten Blick. Aber als der Vater doch einen verstohlenen Blick wirft, sieht er auf dieser schmächtigen Gestalt einen großen Kopf mit schlohweißen Locken und einem dichten, weißen Bart, wettergebräunte, faltige Haut, einen tief freundlichen Ausdruck, und unter buschigen weißen Brauen braune, intensiv strahlende Augen, die voller Güte und Verständnis sind. Der Vater schaut schnell wieder weg, nicht abgestoßen, sondern erstaunt über die Kraft und Ausstrahlung dieses Gesichts.

Der rechte Arm des Mannes liegt in einem schmutzigen Gips unbeweglich an seinem Oberkörper. Wie er so dasitzt, ist er Elisabeths stetem Geschrei nach einem Zuhause vollkommen ausgesetzt. Doch er beugt sich noch weiter vor, wie bekümmert über das, was er da hören muss. Ab und zu öffnet er den Mund und sagt zwischen einigen schwärzlich verfärbten Zähnen hindurch begütigende Worte wie: „Na, na, was ist denn? Ist es so schlimm?“.

Diese Haltung hat zwar noch keinen Einfluss auf Elisabeth. Sie teilt sich aber dem Vater mit. Er wird unter dem Blick des Mannes, der das Kind so erträgt und ansieht, langsam ruhiger, hört auf, Blut und Wasser zu schwitzen und auf bürgerliche Hilfsattacken gefasst zu sein, steckt den Kopf wieder zwischen den Schultern hervor und guckt sich nun erstmals wieder ein wenig in Wagen um. Der ist nach der zweiten Haltestation bis auf die Familie und den Mann ganz leer. Der Vater spürt, dass der Mann bleiben wird.

Im Laufe der weiteren Fahrt lacht der Alte einmal und murmelt: „Der ist aber wild, der Kleine!“ Er meint Elisabeth. „Ja“, sagt der Vater, nun bereit zu diesem direkten Kontakt mit dem Aushaltenden, „es ist nun mal so in dem Alter.“

„Aber so doll ist es doch bei wenigen, oder?“, sagt der Alte und lacht.

Die Endstation kommt. Der Mann steht auf und sagt: „Soll ich helfen?“ Er steigt neben dem Vater, dessen Koffern und Kindern aus und sieht vor dem Vater die hohe Treppe ohne Aufzug und mit mal wieder defekter Rolltreppe. Der Vater sagt: „Ja, diese Treppe hier wird schwer.“

Der Mann weist auf seinen Gips und sagt: „Ich kann nicht richtig zupacken.“ Er schaut über den Bahnsteig, auf dem weitere fünf oder sechs Personen ausgestiegen sind. Und dieser Mensch, der sich sonst wohl schon seit langem mitten auf der Straße in seinen lumpigen Kleidern vor den Passanten versteckt, ruft laut und deutlich quer über den Bahnsteig: „Kann jemand helfen, bitte! Er kommt da nicht allein hoch!“.

Sein Aufruf sorgt dafür, dass einer der Mitreisenden sich zu der Gruppe begibt. Während der Vater und der Mitreisende die kleinen Kinder und die Koffer hoch tragen, bleibt der Retter auf dem Bahngleis stehen. Er wird den nächsten Regionalzug zurück nehmen und dessen Wärme genießen, bis in die Stadt.

Oben auf dem Treppenabsatz schaut der Vater hinunter. Er ist entronnen. Kein Kind brüllt mehr, Friede herrscht. Anders als sonst in diesen Situationen, fühlt er sich dieses Mal nicht ausgepumpt und als schlechter Vater, sondern seltsam aufgehoben und getragen. Auch vor dem Abschied von den Kindern fürchtet er sich auf einmal nicht mehr. Er versteht nicht, wie das sein kann. Wie konnte dieser Mensch ihm so den Rücken stärken?

Der Vater sagt zu Therese: „Das war ein Wunder.“

„Ja“, sagt Therese. „Er hat gar nicht gesagt“ - sie verstellt ihre Stimme tief und streng:  „Machen Sie die Kinder bitte mal ruhig!“.

„Nein, er ist einfach bei uns geblieben“, sagt der Vater. Therese und er schauen zu dem Mann hinunter, der sich auf dem Bahnsteig von ihnen wegbewegt. Nach 20 Metern dreht der Mann sich in ihren Blick hinein um, steht still und schaut hoch. Da hebt der Vater den Arm und winkt. Der Mann beginnt auch zu winken. Die beiden Männer winken sich einen Moment zu. Dann gehen sie auseinander.

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Zum Ende der Predigt möchte Ihnen, liebe Gemeinde, mitgeben, sich im Nachgang einmal selber zu erinnern:

  • Welchen Schlüssel besitzen jene, die mich aufzuschließen imstande sind? Welche meiner Schwächen dient als Schloss, dass ich aufgeschlossen werde für Gottes gütige Botschaft?
  • Was für eine Botschaft wird mir persönlich weitergegeben, und wie verändere ich mich in ihrem Licht?

Mich hat immer der Hebräer- Vers (13, 1) bewegt: „Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ Einen Gast beherbergen wird auch übersetzt mit „einen Fremden beherbergen“.

Ich bin im Bann der Geschichten-Weisheit meiner Kindheit. Ich halte es sehr wohl für möglich, dass uns im Nächsten etwas begegnet oder geschieht, das weder er noch wir veranlasst oder beabsichtigt haben. Möglich und gar nicht lächerlich scheint mir, dass Gott in uns oder den anderen schlüpft und selber auf der Erde herumgeht und wirkt, eine Art Wandlung.  

Deswegen halte ich es für so wichtig, dem nachzuspüren, wo mir so etwas geschieht und zuzulassen, wo einem anderen so etwas durch mich geschieht. Es könnte sein, dass wir gerade die frohe Botschaft selber beherbergt haben.  

Amen.

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