Auftakt Fastenpredigtreihe zum Aschermittwoch: Joh 8,28-36

Auftakt Fastenpredigtreihe zum Aschermittwoch: Joh 8,28-36

Auftakt Fastenpredigtreihe zum Aschermittwoch: Joh 8,28-36

# Archiv Predigten 2016

Auftakt Fastenpredigtreihe zum Aschermittwoch: Joh 8,28-36

Liebe Gemeinde,

Glaubenswege – Lebenswege...

Ich halte so eine Predigt heute zum ersten Mal und tue das auch nicht ohne Scheu. „Wenn man vor dem Altar etwas zur Gemeinde sagt, fühlt es sich an wie ein Kaiser, der vielen Leuten etwas sagt“, beschrieb mir mal ein 7jähriger Diakon des Familiengottesdienstes die jetzige Situation – ich fühle mich leider nicht wie ein Kaiser.

Vor Ihnen, liebe Gemeinde, betrachte ich nun meinen Glaubensweg in diesem Leben. Ein holpriger Weg voller Zweifel. Und welche Markierungen habe ich auf diesem Glaubensweg verinnerlicht? Einige. Und wenn ich eine Markierung spontan nennen soll?

Ich war wohl nicht älter als 12, als meine Großmutter mir die Sammlung von Pastor Helmut Gollwitzer zum Lesen gab. Es ist ein Sammelband mit dem Titel: „letzte Briefe und Aufzeichnungen von Opfern des NS-Regimes“. Die erste Auflage erschien 1954.

In unserer Familie war es meine Großmutter, die für ihre Enkelkinder die geborgene Welt der Schutzengel und des, wie sie immer sagte, lieben Herrn Jesus aufbaute. Aber irgendwann hielt sie uns für reif genug das Bild des Schutzengels auf andere Füße zu stellen. Nicht mehr der Engel, der nachts an meinem Kinderbett steht und tagsüber unsichtbar neben mir ist. Sondern die Suche nach etwas in mir.

Die Sammlung enthält Briefe von vielen Menschen, die bekannt sind aus dem Zusammenhang des Attentats vom 20. Juli 1944.

Hellmut Gollwitzer hat jedoch auch Worte von Menschen zusammen getragen, die bis in die fünfziger Jahre jenseits der historischen Wahrnehmung waren. So auch der 22jährige Leichtmatrose Kim Malthe-Bruun aus Dänemark.

Und diese Briefe gab sie mir als erstes zum Lesen.

Aufzeichnungen von Menschen zu lesen, die dem gewaltsamen Tode geweiht sind, sind verbunden mit der grauenhaften Vorstellung von Folterung und Hinrichtung. Sie sind aber auch verbunden mit der Hochachtung vor unglaublicher Charakterstärke und Mut. Und sie sind verbunden mit dem Gefühl der eigenen Schwäche im Angesicht von Menschen, die ihr Leben für eine bessere Welt einzusetzen vermögen. Das war schockierend für mich.

Aber es ist ein anderes Gefühl, was für mich damals diese Aufzeichnungen zugänglich machte:

Die Briefe dieses jungen Menschen beschrieben Freiheit. Irgendwie sogar Hochstimmung, Freude. Sie beschrieben Licht und Kraft. Und es waren besonders die einfachen Worte dieses jungen Kim Malthe-Bruun, die mir so festes Vertrauen gaben und immer in Erinnerung blieben.

Im Gefängnis, im Januar 1945, schreibt er an seine Mutter:

„Ich habe in den letzten Tagen ziemlich viel an die Pharisäer von heute gedacht und wie sehr die Bibel mißbraucht worden ist und wie gut ich das verstehe. Man liest vom Neuen Testament und man sieht plötzlich hinter ein paar Zeilen Jesus klar und deutlich, aber dann verschwindet er wieder hinter der Wortflut der Evangelisten und langsam legen sich ihre schweren Worte auf einen, und als Sklave, der man ist, wird man durch dieses gleichmachende Gewicht abgestumpft, trottet mit und unterwirft sich ihm, so dass es ein Teil von einem selbst wird. (...)“

Und dann, im selben Brief und nach einem Blick aus der Gefängniszelle auf die schneebedeckte Landschaft, die unter einem blauen Himmel und der Sonne glitzerte, nachdem es die Tage davor grau war, schrieb er:

„Gerade so plötzlich, wie wenn man den Blick erhebt sah ich den Gedanken von vorher in einem ganz anderen Licht. Ich verstand, dass die Lehre Jesu nicht eine Lehre sein darf, die man befolgt, weil man es so gelernt hat. Man soll leben nicht laut seinem Gebot sondern gemäß seinem Gebot in Übereinstimmung mit einer tiefempfundenen Eingebung. In diesem Augenblick empfange ich als etwas vom Tiefsten, was ich von Jesus gelernt habe, dass man einzig und allein nach der Überzeugung seiner Seele leben soll.“

Zwei Monate später schreibt er am Tage nach einer Folterung

„Ich empfand überhaupt keinen Haß. Meinem Körper widerfuhr etwas, es war nur ein Knabenkörper, und er reagierte als solcher, meine Seele aber war von etwas ganz anderem in Anspruch genommen: sie sah wohl die kleinen Geschöpfe die mit meinem Körper zusammen waren, aber sie (meine Seele) war viel zu sehr von sich selbst erfüllt, um sich näher mit ihnen zu befassen.“

Eine größere Freiheit als die hier beschriebene kann es wohl nicht geben. Und das beschreibt uns ein 22jähriger junger Mensch. Er hatte vermutlich die Evangelien gelesen, aber ist, wie er schreibt, den „schweren Worten der Evangelisten“ bis dahin nur sklavisch hinterhergetrottet. Bis er Jesus als das Tiefste, als die Wahrheit und Freiheit empfunden hat, wie er es ausdrückt. Es ist diese Wahrheit jenseits des Intellektes, die für mich die Wahrhaftigkeit einer menschlichen Gotteserfahrung durch Jesus beschreibt – und dies in der Sprache meiner Zeit. Kim war nur 10 Jahre älter als ich, damals beim ersten Lesen.

In den vielen Reden Jesu im Evangelium des Johannes geht es immer wieder anders ausgedrückt um die unmittelbare Gotteserfahrung durch Jesus. „Die Herkunft Jesu ist im tiefsten Wesen Gottes begründet“ so nennt es die Einführung zum Joh. Evangelium der Stuttgarter Erklärungsbibel. Und im Brief hieß es auch „das Tiefste“ durch Jesus. Um die dadurch erlangte Freiheit geht es auch in dem heutigen Predigttext aus dem 8. Kapitel des Johannes. Ich lese Ihnen die Verse 28 bis 31.

"Da sprach Jesus zu ihnen: Wenn ihr des Menschen Sohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, daß ich es sei und nichts von mir selber tue, sondern wie mich mein Vater gelehrt hat, so rede ich. Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Der Vater läßt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt. Da er solches redete, glaubten viele an ihn. Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jüngerund werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen."

Die Wahrheit, von der hier gesprochen wird, ist eine Beziehungsgeschichte. Und ich kann sie durch Kim Malthe-Bruun verstehen. „So ihr bleiben werdet in meiner Rede“ ist nicht ein „wenn ihr mir denn zuhört und folgt“, es ist ein „wenn ich in Euch bin“.  Für Kim ist es „das Tiefste erfahren“. So eine Wahrheit kann nicht gesagt und gehört werden. Sie kann nur empfunden und erlebt werden.

Sie ist ein Ergriffenwerden von der Wahrheit, die wie eine verändernde Kraft einen Prozeß radikaler und totaler Umwandlung einleitet. Kim Malthe-Bruun nennt es eine tiefempfundene Eingebung.

In dem Brief schildert er die Landschaft vor seinem Gefängnisfenster: am Tag vorher war es grau und dann ist es eine in der Sonne glänzende Landschaft unter einem blauen Himmel. Nun liegen nicht mehr die schweren Worte einer Bibel vor ihm, sondern es glänzt in ihm. Und plötzlich sieht er alles in einem anderen Licht. Nicht mehr die Worte der Evangelisten und vielleicht auch Pastoren zählen. Es geht um eine Erfahrung und eine empfundene Erkenntnis – für ihn heißt es: „in der Wahrheit seiner Seele leben“. Nicht laut dem Gebot Jesu, sondern in und gemäß dem Gebot.

Warum schreibt Kim Malthe-Bruun nicht von Gott? Warum ausschließlich von Jesus?

In meinem Glauben, liebe Gemeinde, ist Jesus ein Mensch von menschlicher Geburt und menschlichem Tod durch Hinrichtung gewesen. Jesus ist für mich nicht Gott. Aber er ist eine Beziehung zu Gott. Und diese Beziehung widerfährt dem jungen Schreiber dieser Briefe eben durch Jesus.

Und als diese Jesus-Gottes-Beziehung für ihn Wahrheit, also auch seine eigene Beziehung wird – so wie plötzlich die Landschaft sich veränderte, ist er frei. So frei, dass er unerreichbar ist für die, die in foltern. Er muss nicht einmal mehr hassen.

Kann es andere Wege geben in diese Gottesbeziehung?

Ich lebe mit Freude in einer Weltethosgemeinde. Gottesnähe sprechen wir anderen Religionen nicht ab. Natürlich, es kann auch andere Wege geben.

Die Aufzeichnungen des Kim Malthe-Bruun sind für mich die Schilderung eines Weges des Eintauchens in Jesus und Auftauchens in Gott. Und Auftauchen in Freiheit. „Und werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird Euch frei machen“ steht es im Predigttext. Und ich bin Christin.

Ich habe diese Briefe von Kim Malthe-Bruun immer als Zusicherung empfunden. Sie sind nicht verdeckt durch die schweren Worte der Evangelisten, sondern ein einfaches Beschreiben der nachhaltigen Wirkung Jesu in meiner Zeit. Das ist unglaublich beruhigend. Es ist beschützend – mein heutiger Schutzengel, so zu sagen: mein Netz. Meine Großmutter hat es geschafft: eine neue Geborgenheit.

„Man kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“ heißt es so oft und immer wieder. Hier wird es als Lebenserfahrung beschrieben.

Die Briefe sind ein Zeugnis, dass in der Nachfolge Jesu für diesen Jungen die absolute Zuverlässigkeit und Treue Gottes wahr geworden sind. Und er die absolute Freiheit in seiner Todeszelle erlangt hat. „Der Vater lässt mich nicht allein“ lässt Johannes Jesus in dem Predigttext sagen.

Wir sind heute am Beginn der Passionszeit.

Diese Abschiedsbriefe sind für mich nicht nur Ausdruck der Passions- sondern auch der Ostergeschichte.

Wenige Tage vor seiner Hinrichtung am 8. April 1945 schreibt der Leichtmatrose Kim Malthe-Bruun an seine Freundin Hanne und versucht, ihr seine Lebensenergie mit auf den Lebensweg zu geben. Und er schreibt es in ihrer beider und in Hannes Sprache:

„Wir segelten auf dem wilden Meer, wir begegneten einander. Aber eines Tages riss der Sturm uns auseinander, ich versank und Du wurdest an eine andere Küste gespült. Du wirst in einer neuen Welt weiterleben. Du sollst ebenso leicht und doppelt glücklich weiterleben, denn das Leben hat Dir auf Deinem Weg das Schönste vom Schönen geschenkt. Reiss Dich los, lass dieses glücklichste Glück alles für Dich sein, lass es strahlen.(....) Du wirst sehr, sehr glücklich werden, weil Du einen Grund bekommen hast, auf dem für Dich noch unbekannte Gefühle üppig wachsen können“.

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